Freitag, 28. November 2014

Wolf-Hype, Wolfsangst und eine Spurensuche

Ein Quadfahrer macht am Mittwochmittag an einem Feld bei Casekow eine Pinkelpause. Er zieht sich hinter einen Hügel zurück. Als er irgendwann aufsieht, steht oben auf der Kuppe ein Tier, das einem Wolf ziemlich ähnlich sieht, und beobachtet ihn. Der Mann ist geistesgegenwärtig: Er bleibt ruhig, geht langsam zu seinem Quad und zieht sein Smartphone heraus, um eine Videoaufnahme zu machen. Danach fährt er postwendend zum Nationalpark Unteres Odertal und zeigt die Bilder Dirk Treichel, dem hiesigen Wolfsbeauftragten.

Körperbau, Farbe Proportionen, das sieht alles ziemlich wölfisch aus, urteilt der - nur der Kopf scheint etwas zu hell. Und weil wir am Nachmittag sowieso einen Interviewtermin haben zum Thema Wolf, ruft er mich an und fragt, ob ich mit auf Spurensuche gehen mag. Nichts lieber als das! Ich bin 2006 bis in den Yellowstone geflogen, um endlich Wölfe in freier Natur zu sehen. Ein Wolf, nur 22 Kilometer vor Schwedt, das wäre für mich ein Traum.

Um es gleich zu sagen: Nein, die Spuren sind nicht eindeutig. Durch redaktionelle Kürzungen ist leider in dem Artikel, der von mir in der Zeitung darüber erschien, der Eindruck entstanden, es sei alles doch recht deutlich. Aber letztlich gibt es auch Hunde, die sehr wölfisch aussehen können, wie der Tschechoslowakische Wolfshund:

Diesen hier hab ich 2010 im Wolfcenter Dörverden fotografiert, wo er als Gast-Babysitter den Wolfswelpen Manieren beibrachte. Ich glaube, ohne den direkten Vergleich würde es mir auch schwer fallen, die spontan auseinander zu halten.

Aber die Spurensuche ist wirklich spannend. In zwei Stunden kann ein Wolf zwar ziemlich weit laufen (sie schaffen in einer Nacht zwischen 50 und 100 Kilometern, wenn sie's drauf anlegen), aber nach der Beschreibung schien er ja nicht gerade auf der Flucht zu sein. Als ich also über besagten Hügel klettere, entdecke ich erst mal ein totes Wildschwein - oder was davon übrig war. Nein, kein Wolf oder Hund hat es gerissen. Dirk Treichel, selbst Jäger, erkennt sofort, dass es jemand erschossen und professionell ausgenommen hat. Dass die Decke und der Kopf einfach so liegengelassen wurden, ist in Deutschland übrigens verboten. Interessant jedoch: Die Schnauze ist frisch angefressen. Das allerdings, weiß der Nationalparkleiter, können auch die anderen Schwarzkittel gewesen sein, immerhin sind die Allesfresser. Denn Wildschweinspuren finden wir einige zwischen Rapsfeld und der Fundstelle. "Aber das würde erklären, warum der mögliche Wolf nicht gleich weggelaufen ist - er wollte sein Futter nicht zurücklassen."


Durch das hohe Gras am Wegesrand ziehen sich Schneisen. Es liegen einige Federn herum. Abgebissen, nicht ausgerissen, wie es ein Raubvogel tun würde, sagt Treichel und zeigt mir die Schäfte. Jedes Mal, wenn ich den Kopf hebe, ist da das leise Herzklopfen: Steht er jetzt da? Liegt er da zwischen den Gräsern und beobachtet dich, unsichtbar und nur wenige Meter entfernt? Herzklopfen ja, aber nicht aus Angst, nur aus Vorfreude. Dass das anderen Menschen nicht so geht, wenn sie daran denken, dass sich ein Wolf in ihrer Gegend herumtreibt, weiß ich gut. Und dass man die Angst nicht einfach abtun darf, egal, welch großer Wolf-Fan man ist. Ich habe schreckliche Angst vor Spinnen und das ändert sich auch nicht dadurch, dass man mir tausendmal erzählt, dass sie harmlos sind. Trotzdem habe ich mir vorgenommen, so viel Aufklärung wie möglich zu betreiben. Vielleicht schaffen wir es eines Tages, das Rotkäppchen-Image loszuwerden.

Wölfe sind die echten Grenzgänger: Zwar galten sie rund 100 Jahre in Deutschland als ausgestorben, aber schon seit Anfang der 90er schwimmen Tiere von der polnischen Seite aus dem Zehdener Landschaftspark über die Oder, um dem Unteren Odertal eine Stippvisite abzustatten, sagt Treichel. Angesiedelt haben sie sich aber zuerst in der sächsischen Lausitz, auf Truppenübungsplätzen und im Braunkohleanbaugebiet - weit entfernt von der romantischen wilden Wildnis, als deren Symbol der Wolf gern verklärt wird. Der Wolf ist unglaublich anpassungsfähig, deshalb war er einst ja auch auf der ganzen Welt verbreitet, bis wir angefangen haben, ihn auszurotten.

Und dann der frische Pfotenabdruck!





Neun Zentimeter lang, das ist etwas klein für einen Wolf, der im Vergleich zum Körper riesige Patschepfoten hat. Zwischen den Blättern des Rapses ist es schwer, eine zusammenhängende Spur zu finden und wir können sie nicht lange genug verfolgen um zu sagen: Verläuft sie wolfstypisch schnurgeradeaus und kraftsparend statt in verspielten Wellenlinien, wie sich ein Hund bewegen würde? An einer anderen Stelle findet Treichel noch eine passende zweite Spur, verwaschen und mindestens zwei Tage alt. Treibt sich der Wolf also schon länger herum oder ist es doch ein Dorfhund, der regelmäßig stiften geht?

Die Spuren sind nicht eindeutig. Aber Wölfe wandern durchs Untere Odertal, das ist schon seit Jahren klar. Im Biosphärenreservat Schorfheide werden gerade immer mehr Tiere beobachtet. Wenn sich dort ein Rudel ansiedelt, könnte es sein, dass die sich regelmäßig mit der polnischen Population austauschen.

Für Aufregung hat in der Uckermark gerade der Fall von einer Jagdhündin aus Steinhöfel gesorgt, die auf dem Grundstück ihres Besitzers von einem Wolf attackiert wurde. Der Förster sprang spontan nackt aus dem Fenster und vertrieb den Wolf. Roland Ueckermann liebt seinen Hund sicher sehr, aber er behält meiner Meinung nach einen bewundernswert kühlen Kopf und stimmt nicht in irgendwelche Hasstiraden oder Angstmachereien ein. Aber er hat recht, wenn er sagt: Der Wolf muss Respekt vor dem Menschen haben. Im Yellowstone beschießen die Ranger Wölfe, die meist wegen Anfütterung durch Touristen zu zutraulich werden, mit Gummigeschossen.

Ein Wolf ist kein Kuscheltier (auch wenn ich mich sehr gefreut hab, mal welche streicheln zu können - 15 Wochen alt!).
Natürlich muss man vorsichtig sein, wie bei einem Wildschwein, bei einem fremden Hund, bei jedem (Wild-)Tier. Aber die gefühlte Gefährlichkeit des Wolfs steht in keinerlei Verhältnis zu seiner tatsächlichen, wie Elli Radinger ganz großartig in "Wolfsangriffe - Fakt oder Fiktion?" analysiert. Kinder können beruhigt weiter im Wald spielen, wenn sie sich mal von den Playstations losreißen können. Warum also ruft ausgerechnet der Wolf so extreme positive und negative Emotionen hervor? Dirk Treichel ist überzeugt, dass dabei auch das Verhältnis zum Nachfahre Hund als ältestes Haustier eine Rolle spielt. "Der Wolf war Gefährte und Konkurrent. Er ist sehr sozial und anpassungsfähig wie der Mensch - so hat sich über Jahrhunderte eine Hassliebe entwickelt."

Wer Natur rein nach Nützlichkeit betrachtet, der kann dem Wolf wahrscheinlich wenig abgewinnen. Er macht es nötig, Vieherden zu schützen (wofür es übrigens EU-Förderungen gibt) - so, wie es Züchter jahrhundertelang tun mussten. In Rumänien, wo der Wolf nie weg war, regt sich keiner über Nachtpferche und Herdenschutzhunde auf. Und wenn sich Wölfe ein paar Wildschweine vornehmen, würde es auch nicht schaden. Ich halte mich von der Philosophie her an Albert Schweitzer: "Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will." - mit welchem Recht teilen wir ein, wer bei uns leben darf und wer nicht?

Allerdings hilft es nicht, dass Medien, selbst wenn sie nicht reißerisch berichten, doch den Begriff "Wiederansiedelung" missverständlich verwenden. Biologen nutzen ihn anders als der Normalbürger - letzterer denkt sofort, jemand gibt Geld aus und betreibt Aufwand, um die Wölfe bewusst hierherzukarren und anzusiedeln. Und regt sich über die Geldverschwendung auf. Nein. Sie kommen von allein, weil sie sich wohlfühlen.

Und ich sage wie der Nabu: Willkommen. Und wenn man mal einem Wolf gegenübersteht wie (vielleicht) der Quad-Fahrer in Casekow, macht man's genau wie er: Selbstbewusst und entspannt stehen - ich bin nicht dein Beuteschema! Keine hektischen Bewegungen, den Wolf ruhig ansprechen und ihm sagen, er soll Leine ziehen. Langsam Rückzug antreten. Und in meinem Fall: Breit grinsen, ein Foto machen und auf den Wolken der Glückseligkeit davonschweben.

P.S. vom 30. Januar 2015: Eine genauere Auswertung des Handymaterials hat ergeben, dass es höchstwahrscheinlich kein Wolf war. Schon auf dem kleinen Bildschirm kam Dirk Treichel der Kopf zu hell vor, auf dem großen dann hat er auch noch Unstimmigkeiten im Körperbau gefunden. Schade!

P.S. vom 12.4.2015: Aus aktuellem Anlass: Hier eine etwas ausführlichere Anleitung, was zu tun ist, wenn man einem Wolf begegnet. 

Dienstag, 11. November 2014

Glaube, Vorurteile, IS: ein konvertierter Moslem erzählt


Warum berichtet der Spiegel nicht mal über normale Menschen, die zum Islam konvertiert sind, sondern immer nur über die, die fanatisch für die IS in den Krieg ziehen wollen? Die Frage hat ein Anrufer der Redaktion gestellt.
„Was ist denn Ihre Geschichte?“, fragt ihn der Journalist.
„Ich bin ein ganz normaler Typ.“
„Dann können wir es auch nicht drucken.“
Die Anekdote erzählt mir ein Bekannter, der seit fünf Jahren und einem Monat Moslem ist. „Das ist das Problem“, sagt er. „In den Medien verkauft sich nur, was spannend ist. Und da ist ein 19-Jähriger, der sich eine Kalaschnikow schnappt, interessanter, als die Konvertiten, die gar nicht auffallen.“
Deshalb möchte ich in diesem Blog mal seine Geschichte erzählen: Warum hat ihn der islamische Glaube überzeugt? Wie geht er im Alltag damit um? Was denken er und seine Gemeinde über die IS?

Du erzählst nur wenigen Leuten, dass du Moslem bist, und möchtest dieses Interview anonym führen. Warum?
Christen rennen auch nicht den ganzen Tag durch die Straße und sagen jedem, dass sie Christen sind – außer, sie missionieren gerade. Im Alltag kommt man einfach nicht dazu, das zu thematisieren. Auf der Arbeit weiß niemand von meinem Glauben. Mein Chef ist ein sehr offener Mensch, der hätte wohl Verständnis. Aber ich weiß nicht, wie andere Kollegen reagieren würden. Die Stimmung beim Thema Muslime war in Deutschland nie besonders gut. Seit dem 11. September und jetzt seit ein, zwei Jahren ist die öffentliche Meinung so negativ, dass ich besser nichts sage.

Aber fällt es nicht auf, wenn zum Beispiel Ramadan ist?
Wenn mich Kollegen mit in die Kantine nehmen wollen, sage ich einfach, dass ich später esse. Bisher ist es noch niemandem aufgefallen. Wenn ich bete, schließe ich für fünf Minuten das Büro ab. Beim Einkaufen schaue ich mir die Verpackung genau an, ob keine Gelatine drin ist. Aber da bin ich nicht paranoider als jeder Vegetarier.

Was ist mit deiner Familie?
Im Familien- und Freundeskreis weiß es eigentlich jeder.

Was haben deine Eltern gesagt, als du konvertiert bist?
In meiner Verwandtschaft gibt es viele christliche Strömungen: Katholiken, Methodisten, Lutheraner, Baptisten, Freikirchen. Mein Vater gehört einer kleinen christlichen Gemeinde an, meine Mutter ist nicht religiös. Ich wurde nicht getauft und konnte mir immer aussuchen, ob ich in den Gottesdienst gehen will oder daheim bleiben. So war ich völlig frei, meinen eigenen Weg zu gehen. Als ich meinem Vater erzählt habe, dass ich Moslem bin, hat er sich gefreut: „Schön, dass du auch an Gott glaubst.“ Meine Mutter hatte mehr Probleme, das zu verstehen. Beide haben sich Bücher geholt, um sich über die Religion zu informieren, und ich habe sie zu Moschee-Führungen und Konzerten mit islamischer Musik mitgenommen.

Wie bist du überhaupt auf den Islam gekommen?
Schon als Jugendlicher im Schulunterricht dachte ich, von allen Religionen ist der Islam die logischste.

Die logischste? Was hat Religion mit Logik zu tun?
Bei den Christen gibt es die Dreifaltigkeit und die Erbsünde, was ich nie akzeptieren konnte. Der Koran ist einfacher mit den Naturwissenschaften zu vereinbaren. Zum Beispiel wird beschrieben, dass sich der Mensch im Körper der Frau aus einem Samen entwickelt. Mohammed war ein Analphabet und ein Händler, woher konnte er das wissen?

Vor allem vor fast 1500 Jahren. Warum bist du dann erst später konvertiert?
Das war damals nur so ein Gedanke, aber ich habe nicht wirklich daran geglaubt. Ich hatte das Vorurteil, dass Islam etwas von und für Ausländer ist, eine Religion für Türken und Araber. Später habe ich andere Länder bereist und gesehen, wie Christen, Juden und Muslime zusammenleben – und sie sahen alle gleich aus, zum Beispiel im Balkan. Da habe ich angefangen, mich nicht nur intellektuell mit dem Islam auseinanderzusetzen, sondern auch spirituell. Aber es war eine lange Entscheidungsphase, über ein Jahr.

Warum so lange?
Um Muslim zu werden, musst du dich nicht taufen lassen oder Schulungen besuchen. Du musst nur zwei Dinge sagen: Ich bezeuge, dass es keinen Gott außer Allah gibt und Mohammed Sein Diener und Gesandter ist. Den ersten Teil hätte ich früher sagen können, denn ich glaube an einen monotheistischen Gott. Doch der zweite Teil, da musste ich erst mal nachdenken, was das für mich bedeutet.

Nur die zwei Sätze? Was ist mit den Regeln, dem Fasten und Beten?
Da steht kein bärtiger Mann hinter dir und passt auf, dass du alles richtig machst. Du könntest dich irgendwie durchwurschteln. Ich habe noch ein halbes Jahr lang Alkohol getrunken, später hatte ich einfach kein Bedürfnis mehr. Ich halte nur die Regeln ein, die mich überzeugen.

Gibt es welche, die dich nicht überzeugen?
Wenn man manche Strafgesetze aus dem Koran wörtlich nimmt, sind sie sehr hart. Ich denke, da muss man den Kontext beachten.

Zum Beispiel?
Eine muslimische Freundin von mir trägt in Deutschland kein Kopftuch. Der Hintergrund ist, dass im Koran steht, Frauen und Männer sollen sich bescheiden und unauffällig kleiden. Männer sollen zum Beispiel keine Seide und keinen Goldschmuck tragen, weil das protzig ist. Deshalb ist mein Ehering aus Silber. Also, meine Freundin argumentiert: Wenn ich in Deutschland ein Kopftuch trage, starren mich alle an. Damit verfehlt die Regel ihren Sinn. Das meine ich mit Kontext.

Was bedeutet der Glaube für dich?
Das lustige ist, dass ich mich gar nicht als besonders religiös sehe. Nicht jeder, der zum Islam konvertiert ist automatisch besonders eifrig! Für mich fühlt sich das islamische Gebet in der Gruppe einfach als die richtige Art zu beten an, und das gibt mir Halt. Es gibt auch eine muslimische Art zu meditieren, Dhikr, ähnlich einem Rosenkranz. Das brauche ich einmal im Monat um die Batterien aufzuladen. Allgemein ist im Islam die Ausübung der Religion fast wichtiger als die Inhalte des Glaubens, wodurch der Islam mehr mit dem Judentum gemeinsam hat als mit dem Christentum.

Welcher Strömung gehörst du an?
Das wird oft als Volksislam bezeichnet, so wie die türkische Oma, die nebenbei aus Teeblättern wahrsagt. Ich habe Kontakte in die mystische Richtung, zu den Sufis.

Wirst du manchmal komisch angeschaut, wenn du in eine Moschee gehst?
Selbst in ethnisch getrennten Moscheen kannst du beten und wirst in Ruhe gelassen. Moscheen sind anders als Kirchen, sie sind nicht geweiht. Alles ist sehr pragmatisch: Es gibt Teppiche auf dem Boden, weil es bequemer ist, wenn du dich auf die Knie wirfst. Du ziehst die Schuhe aus, damit du den Teppich nicht schmutzig machst. Unter der Kuppel verteilt sich der Schall besser. Du darfst jeden Zentimeter betreten, es gibt keine abgesperrten Bereiche. Ich habe einmal eine Moscheeführung für eine Schulklasse gemacht, die hatten uns im Zuge ihres evangelischen Religionsunterrichts besucht. Die Kinder waren enttäuscht, weil es gar nichts Mystisches und Verborgenes gab.

Wie hast du in deiner Stadt die Gemeinde gefunden?
Als ich hierhergezogen war, habe ich einfach ein paar Araber auf der Straße gefragt, wo es eine Moschee gibt. Die haben mir die Privatwohnung gezeigt, in der die Treffen abgehalten werden. Ich wohne in einer kleinen Stadt, wo die meisten Muslime Flüchtlinge sind. Da kommen viele verschiedene Menschen an, die nicht einmal die gleiche Sprache sprechen. Da fragt man nicht, welcher Strömung sie angehören. Die Predigt ist auf Arabisch und meistens zu allgemein erbaulichen Themen, nicht über Politik.

IS ist gar kein Thema?
Doch, tatsächlich hatten wir gerade eine Predigt auf Englisch, wo es um IS ging. Der Mann hat erklärt, dass sie vieles tun, was im Islam verboten ist. Im Koran stehst, du sollst andere Menschen, gerade Christen und Juden, mit Respekt behandeln. Du sollst niemanden mit deinem Gebet stören oder öffentlich zu Demonstrationszwecken beten. Du darfst keine Zivilisten töten, keine Alten, Frauen und Kinder angreifen. Dass die sich als Kalifat bezeichnen, das ist so, als würde sich jemand selbst zum Papst ausrufen. Er ist sogar so weit gegangen zu sagen, das sind keine Muslime. Da wäre ich vorsichtig.

Warum?
Nur Gott weiß, wer an ihn glaubt und wer nicht. Aber eins ist klar: Das sind Verbrecher, die sich nicht an den muslimischen Glauben halten.

Sagen das nur Mitglieder der gemäßigten Strömungen?
Nein, alle islamischen Verbände haben deutlich Stellung gegen IS bezogen. In einer konservativen Moschee, die ich im Sommer in Berlin besucht habe, hat ein Prediger gesagt: „Über IS rede ich nicht, ein heiliger Ort wie die Moschee ist es nicht wert, ein Wort über sie zu verlieren.“

Sind dir mal Extremisten begegnet?
Wenn mir ein Erwachsener sagen würde, er ist Anhänger der IS, würde ich die Polizei rufen. Bei einem Jugendlichen ist es schwieriger, weil das vielleicht nur Trotz ist oder Provokation. Da würde ich vielleicht erstmal versuchen, über die Gemeinde Einfluss auf ihn zu nehmen. Ruft man gleich die Polizei, kommt er sich wie ein Opfer vor. Zum Glück war ich noch nicht in so einer Situation. Aber ich habe mich schon mit Salafisten unterhalten, um zu schauen, wie die ticken. Sie haben mich sogar in ihre Moschee eingeladen.

Warst du da?
Ja, aber es ging in der Predigt nur um ein allgemeines Thema. Später habe ich versucht, einem Journalisten ein paar Interviewpartner aus der Gemeinde zu vermitteln. Deshalb habe ich dort jetzt Hausverbot, weil ich angeblich zu kritische Fragen gestellt hab. Das erzähl ich mit Stolz: Bei den Salafisten habe ich Hausverbot. Aber ich habe mir mal einen Vortrag von Pierre Vogel angehört.

Pierre Vogel ist ein Konvertit, der oft als Hassprediger bezeichnet wird und zu einem salafistischen Verein gehörte, den der Verfassungsschutz auflösen ließ.
Als ich zum ersten Mal ein Youtube-Video von ihm sah, dachte ich, das ist ein Kölner Karnevalist, der den Islam veräppelt. So radikal kann keiner sein! Es war interessant, ihn live zu sehen, aber ich hatte auch Angst, dass die Salafisten um mich herum erkennen, dass ich nicht zu ihnen gehöre. Er hat Charisma und kann auch lustig sein – das ist besonders beunruhigend. Das brauche ich nicht nochmal. Ich habe ihn aber ein zweites Mal gesehen, bei meiner Haddsch an einer Tankstelle in Medina.

Du hast also schon die Pilgerfahrt nach Mekka gemacht, die jeder Muslim einmal im Leben unternehmen sollte. Wie war das?
Mekka selbst ist eine hässliche Stadt. Es gibt viel Dreck, viele Autos und die Luft staut sich in diesem Tal. Ich bin körperlich weit über meine Grenzen gegangen. Aber es war ein besonderes Erlebnis.

Was war das Besondere?
Dort sind so viele Menschen, dass es der einzige Ort ist, wo Männer und Frauen gemeinsam beten. Ich bin mit meiner Frau händchenhaltend durch die Stadt gelaufen. Das ist so eine Reise, wo du hinterher kaum glauben kannst, dass du sie wirklich gemacht hast. Es war so abgefahren! Millionen Menschen sind auf diesem Platz, aber alle sind absolut ruhig.

Hat dich die Reise verändert?
Ich weiß nicht, ob das viel mit mir gemacht hat. Es heißt, viele Muslime werden durch die Haddsch offener und toleranter, weil sie dort so viele Menschen aus verschiedensten Ländern treffen.