Dienstag, 30. Dezember 2014

Von Mr Hyde bis Harry Potter: Edinburgh, die Stadt, die Autoren beflügelt


Schon erkannt? Was im Hintergrund wie ein Schloss aussieht, ist die George Heriots School in Edinburgh. Warum man das kennen sollte? Gut, im Film sah es etwas anders aus, trotzdem soll dieses 1628 als Hospital erbaute Gemäuer für J. K. Rowling das Vorbild für ihre Zauberschule Hogwarts gewesen sein. Das behaupten zwar auch noch andere Schulen in der Stadt, aber weil Hariots direkt neben dem Greyfriars Kirkyeard liegt - und direkt in Sichtweite des Cafés "Elefant House", in dem Rowling saß und schrieb -, ist das die wahrscheinlichste Erklärung. Allerdings lernen die rund 1600 Schüler in einer erheblich weniger gefährlichen Umgebung auch mal sowas wie Schreiben und Rechnen - etwas, wo Harry Potter und Co später mal einigen Nachholbedarf haben werden!
Dieser Grabstein von Thomas Riddell auf dem Greyfriars Kirkyard
 ist zur Pilgerstätte für Harry Potter-Fans geworden

Da war einer der Ansicht, dass Harrys Onkel auch einen Grabstein verdient hat, 
wenn schon Lord Voldemort  hier liegt

Für das Café ist das natürlich willkommene Werbung

Einen etwas deftigeren Geschmack hat Ian Ranking, der seinen Lieblings-Pub, die Oxford Bar, eins zu eins in seine Rebus-Krimireihe übernommen hat und seinen Inspektor dort fleißig Bierchen kippen lässt. Die Bar ist winzig klein und schon vom Geruch wird man besoffen - aber die Stammkunden an der Theke nehmen die Fans aus Deutschland mit Humor.

Rowling und Rankin sind vielleicht die jüngsten, aber bei weitem nicht die einzigen Beispiele für Schriftsteller, die sich von der schottischen Hauptstadt mit ihren alten Häusern und verwinkelten Gassen haben inspirieren lassen. Arthur Conan Doyle wird zwar von vielen mit London in Verbindung gebracht, doch er ist in Edinburgh geboren. Vor allem: Hier lernte er als Medizinstudent Joseph Bell kennen, einen berühmten Forensiker, der später am Fall von Jack the Ripper mitarbeitete und Doyle als Vorbild für seinen Sherlock Holmes diente.

Rowling ist auch nicht die erste, die Namen von Grabsteinen klaute. Charles Dickens, zu Besuch bei einem Freund, ging morgens auf dem Canongate Kirkyard spazieren. Auf einem Grabstein las er: "Ebeneezer Scrooge - mean man". Meine Güte, dachte sich Dickens, was hat dieser Mann getan, dass ihn seine Erben noch auf dem Grabstein als gemein, hinterhältig und geizig bezeichnen? Und das in einer Zeit, wo sich nur die Reichen einen Grabstein leisten konnten, es also unmöglich ein verurteilter Verbrecher sein konnte. Dickens grübelte darüber nach und schrieb schließlich "A Christmas Carol", seine vielleicht berühmteste Geschichte vom Geizhals Scrooge, der von den drei Weihnachtsgeistern zu einem besseren Menschen bekehrt wird. Hätte Dickens jedoch seine Brille dabei gehabt, hätte er die wahre Inschrift lesen können: "Ebeneezer Scroogie - meal man" - zum Gedenken an einen freundlichen Menschen, der den Alten und Kranken ihre Mahlzeiten ins Haus brachte.  Auch wenn die Geschichte zu sehr nach Anekdote klingt, ist klar, dass die Stadt Charles Dickens sehr beeindruckte.
Die Statue von Robert Fergusson vor dem Canongate Kirkyard. Der Dichter starb 
1774 im Alter von nur 24 Jahren im Irrenhaus. Trotzdem beeinflusste er das Werk von Robert Burns, 
einem der schottischen Lieblinge.

In einer niedlichen kleinen Seitenstraße der Royal Mile ist übrigens das Writer's Museum zu finden, das sich den drei Großen der Stadt gewidmet ist: Robert Burns, Sir Walter Scott und Robert Louis Stevenson. Ersterer ist vielleicht nur den Schotten wirklich bekannt und selbst die können seine Gedichte, die er in drei verschiedenen Dialekten schrieb, nicht ohne Übersetzung verstehen. Zweiterer hat selbst Goethe Respekt abgerungen und nach seinem Tod errichtete man dem Autor von "Ivanhoe" mitten in der Stadt ein Monument, das sich vor keiner Kathedrale verstecken muss. Stevenson ist natürlich am besten dokumentiert mit seinen Reisen - und der beliebteste. Seit über 70 Jahren gibt es einen Fanclub, der jeden Donnerstagnachmittag im Museum für Fragen der Besucher zur Verfügung steht.
Viele Touristen stolpern zufällig ins Museum, weil ihnen das
"Lady Stair's House", erbaut 1622, so gut gefällt


Von ihm stammt auch die spannendste (und im Gegensatz zu Dickens belegte) Geschichte, wie das widersprüchliche Edinburgh und seine dunklen Seiten einen Autor unmittelbar auf eine Geschichte gestoßen haben: Stevensons Familie war nämlich eng mit dem Tischler Deacon William Brodie befreundet, der als ehrenwerter Bürger im Stadtrat saß und unter anderem einen Untersuchungsausschuss leitete, der eine mysteriöse Einbruchserie in die Häuser der besseren Gesellschaft aufdecken sollte. Das Problem: Brodie selbst war der Kopf der Räuberbande! Spielschulden brachten ihn dazu, seine Freunde auszuspionieren und nachts ihre Schränke aufzubrechen, zum Teil mit den Ersatzschlüsseln, die er als Macher dieser Schränke in seiner Werkstatt hatte! Das ging einige Zeit gut, bis ein paar Handlanger geschnappt wurden und ihn verrieten. Brodie wurde 1788 erhängt, an einem Galgen, den er selbst (mit Falltür) entworfen hatte. Ein ziemlicher Schock für den kleinen Robert, der den Gauner als lieben Onkel kannte. Ganz klar, welche Geschichte dabei herauskam: Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr Hyde. Eine Geschichte so kultig, dass sie in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen ist und sogar von den Toten Hosen als Vergleich herangezogen wird. Und jedem ist klar, woher die Idee mit dem Hulk kommt, oder?
Brodies Pub an der Royal Mile, angeblich nahe des Platzes, wo er gehängt wurde, 
zeigt die beiden Gesichter des Mannes

O ja, ich verstehe sehr gut, warum sich so viele Autoren seit Jahrhunderten von Edinburgh angezogen fühlen. Ich hatte auch gleich das Bedürfnis, mich hinzusetzen und Geschichten zu schreiben. Schaut euch allein diese wundervollen Buchläden an!
Ob bis zum Bersten vollgestopft mit Second-Hand-Büchern oder ein edles Ambiente, in dem die Cover präsentiert werden als die Kunstwerke, die sie sind:




Und ich habe selbst dort Hinweise auf Weltliteratur (im populären Sinne) gefunden, wo sie gar nicht beabsichtigt waren!
Ein Geschäft namens Rohan direkt neben einem weißen Baum? Leider waren die Kollegen alle miteinander keine Fantasyfans, deshalb musste ich mich allein darüber freuen. Ebenso wie über "Castle Rock" - na gut, es ist schon einige Jährchen her, dass Stephen King seine fiktive Lieblingsstadt untergehen ließ.

Der Meister der Überraschung und des Hauptcharaktere-Tötens hat zwar mit Edinburgh nun wirklich nichts zu tun, aber ich mag die Werbung:

Ja, da stecken noch viele, viele Geschichten drin, in dieser Stadt. Und ich hatte nur zwei Wochen Zeit - und obendrein mit Arbeit vollgestopfte Wochen -, um einen Bruchteil davon zu erkunden. Auf jeden Fall möchte ich eines Tages zurückkehren und weiter forschen und mich inspirieren lassen. Allein  dieses Graffiti erzählt einen Krimi, habe ich das Gefühl:







Sonntag, 21. Dezember 2014

Referendum, Musik, Whisky und Männer in Röcken: Besuch in Schottlands Hauptstadt

Blick von Arthur's Seat auf Edinburghs Altstadt mit Burg (oben links) 
und Holyrood Palace, Sommersitz der Queen (unten rechts)

Den schottischen Nationalstolz bekomme ich schon am ersten Abend in einem Edinburgher Supermarkt zu spüren. Ich kaufe zwei Kanister mit je fünf Liter Wasser. Der Mann an der Kasse: "Mögen Sie kein Leitungswasser?"
Ich: "Na ja, da ist Chlor drin, das ist nicht so mein Fall."
Er: "Wir haben das beste Leitungswasser der Welt! Kennen Sie London? Wenn Sie vorher in London gewesen wären, wüssten Sie das Wasser hier zu schätzen."

Ich übersetze hier die Gespräche frei aus dem Gedächtnis. Überraschenderweise hatte ich relativ wenig Probleme, die Schotten zu verstehen. Allerdings ist die Hauptstadt noch vergleichsweise harmlos, was den Dialekt betrifft. Verzeihung - wie mir schon vor Jahren ein schottisches Pärchen auf Urlaub in Bayern erklärte: Schottisch ist kein Dialekt, sondern wie Englisch eigentlich gesprochen gehört!
Selbst die Engel spielen Dudelsack im St. Giles Cathedral

Und dass es kaum Verständigungsschwierigkeiten gab, war nur gut. Denn was mich in diesen zwei Wochen in Edinburgh am meisten beeindruckt hat, waren die Schotten selbst: Unglaublich freundliche und offene Menschen, mit denen man sehr leicht ins Gespräch kommen kann - zumindest in dieser Nebensaison, wo alles ein bisschen entspannter ist und die Stadt nicht überquillt von Touristen wie zu Zeiten des Festivals. Ich war dort mit einem EU-Programm, um mit einer Gruppe Journalisten einen englischen Reiseführer zu erstellen. Den gibt es auch bald als E-Book, der Link folgt noch.

Das gescheiterte Referendum für die Unabhängigkeit von Großbritannien ist immer noch ein Thema und keineswegs tabu. "Wer geschlagen ist, kommt umso stärker zurück", kommentiert Liz, eine süße alte Dame, die im Teehaus an meinem Tisch sitzt und der ich so eine kämpferische Aussage gar nicht zugetraut hab. Ben, unser Guide beim Stadtrundgang, hat mit "Ja" für die Unabhängigkeit gestimmt, versteht aber, warum die Gegner gewonnen haben. "Die Idee kam von den Politikern, nicht von den Menschen. Die wollten nur der Labour Party wegen des Kriegs eine Absage erteilen", sagt er.

Ben: Lebendige Stadtführung - nur manchmal etwas zu schnell

Während wir uns in unsere Mäntel mummeln und lange Unterhosen tragen, rennt Ben in Shorts herum. Aber eigentlich kein Wunder, dass ihm nicht kalt wird: Wenn er von der Geschichte Schottlands erzählt, ist der ganze Körper im Einsatz. Wir  müssen ihn gelegentlich in seinem Redefluss bremsen, weil er zu schnell wird. Besonders viel Temperament zeigt er in seiner Schmährede auf den Film "Braveheart". Einfach alles hat Mel Gibson falsch gemacht: Die blaue Farbe ist 600 Jahre zu spät und der Ehrenname Braveheart bezog sich historisch auf Robert de Brus, dessen einbalsamiertes Herz nach seinem Tod den Kreuzrittern vorangetragen wurde, um ihnen in der Schlacht Mut zu machen. "Nicht mal den Soundtrack haben sie richtig hingekriegt, das sind irische Dudelsäcke, keine schottischen!", schimpft Ben.

Cesare und Mario von "Acid Tuna" sind aus Spanien nach Edinburgh eingewandert

Musik spielt in Edinburgh eine große Rolle. Selbst im Winter stehen entlang der Royal Mile, die von der Burg bis zum Sommerpalast der Königin führt, Straßenmusikanten, und zwar nicht nur Dudelsack-Spieler. Mario und Cesare sind extra aus Spanien eingewandert, weil sie die Live-Musik-Kultur von Edinburgh so schätzen. "In Spanien ist mal ein Ton zu laut und sofort erstatten die Nachbarn Anzeige. Als Musiker ist man fast ein Verbrecher", erklärt Mario, der mit seinem weißen Kontrabass "Mrs. Robinson" zupft. In Edinburgh finden sie immer einen Gig, fast jeden Abend gibt es in irgendeinem Pub Live-Musik bis morgens um eins und die Schotten empfangen die beiden Spanier mit offenen Armen. 

Selbst die Traditionstänze werden so ganz nebenbei und ohne Tamtam, einfach mit Spaß gepflegt. Jeden Dienstagabend spielt eine andere Band in der Summerhall und über hundert Leute jeden Alters treffen sich, um Ceilidh zu tanzen. Mich erinnern die Formationen an Mittelaltertänze - nur etwa doppelt so schnell. Einfach nur zuschauen ist nicht, ehe ich's mich versehe, bin ich mittendrin, hab bald Seitenstechen und einen Drehwurm und unendlich viel Spaß. 

(danke Lydia für das Bild von mir im freien Flug - meine armen Tanzpartner!)

Die Männer im Kilt, erkennt man schnell, sind meist die, die Ahnung haben. Aber jeder Anfänger ist willkommen. Die Band und die freundlichen Mittänzer erklären gern, wie die Schritte gehen, und wenn man mal durcheinanderkommt, lachen sie freundlich. Ein Hochleitungssport nach meinem Geschmack!


 
Anfänger und Profis, rund 100 Leute in einem großen Saal. 

Dudelsack, Kilt, was fehlt noch an typischen schottischen Klischees? Natürlich der Whisky. Dass in diesem Jahr beim World Whisky Award ein Japaner das Rennen gemacht hat, hat bei vielen Schotten geradezu Entsetzen ausgelöst. Nicht, dass der japanische schlecht wäre, beeilen sie sich zu versichern, aber besser als die einheimischen? In den Fußstapfen von Prinz William und Kate besuchen wir die Destillerie, wo "The Famous Grouse" hergestellt wird. Es ist ein Fest für die Nase, denn in jedem Raum riecht es anders. 

 Highland-Feeling

 Schön verkosten können wir aber auch im Pub "The Diggers", so benannt nach den Totengräbern, die das Lokal zwischen zwei Friedhöfen für einen Absacker nutzen. Weil nicht genug Platz ist für alle, lande ich am Tisch mit Don. Nachdem der seinen einzigen deutschen Satz zum Besten gegeben hat ("Deutschland über alles") geht es im Gespräch bergauf. Er mag Deutschland, hat es halt noch als Angehöriger der britischen Armee erlebt, ist aber ein Fan der schönen Städte und der friedlichen Wiedervereinigung. Don hat gegen das Referendum gestimmt. "In der EU geht es doch darum zusammenzuwachsen. Warum sollen wir da unser eigenes Ding drehen?"

 Whiskytrinken unter Dons Anleitung im "Diggers"

Don erklärt mir, wie ich Whisky richtig genieße: erst schnuppern, dann einen kleinen Schluck über die Zunge rollen lassen, dann einen kleinen Schuss Wasser rein, damit sich nochmal ganz neue Aromen entfalten. Den Juror vom Whisky Award will Don mal in die Finger kriegen, ihn ins Diggers schleifen und ihn mal was durchprobieren lassen. Und dann soll der nochmal behaupten, die Japaner seien besser!

Eine Stadtführung der feuchteren Art


Es geht aber bei Weitem nicht nur ums Saufen in dieser Stadt. Kulturell hat Edinburgh viel zu bieten. Der Eintritt in die Museen ist fast überall kostenlos, ebenso in Galerien. Ich verbringe ein Mittagessen im The Stand Comedy Club, das mir viel Bauchschmerzen bereitet. Nicht das Essen, das ausgezeichnet ist, sondern weil ich so viel lachen muss. Zwei Stunden Improvisationstheater mit Stu und Garry, und das Ganze zum Preis von einem Burger! Einmal greifen sie sogar eine Idee von mir auf. Die Aufgabe: Ein Moderator (Gaststar) interviewt einen Experten (Stu), während Greg mit einem Opfer aus dem Publikum die "Bebilderung" des Berichts darstellt. Die Zuschauer dürfen reinrufen, für was Stu Experte sein soll. Hier ein Video, was sie aus meinem Vorschlag - das Leben des gewöhnlichen Kängurus - gemacht haben. 

  

Aber ich mach mich ja auch gern selbst zum Affen. Und deshalb ist für mich ein Höhepunkt der Reise der Abend im Storytelling Café gewesen. 


Das ist nur das Haus von außen, eines der ältesten Gebäude an der Royal Mile, von ca. 1490. Aufzeichnungen habe ich keine zu diesem Abend, an dem ich einfach nur mal genießen wollte, wie Geschichten erzählt werden. Einmal im Monat ist da nämlich offenes Mikrofon. Gastgeber Douglas lässt am Anfang ein Buch herumgehen und jeder, der einen Beitrag leisten will, kann seinen Namen und ein Stichwort eintragen. Da gibt es eine Australierin, die zum ersten Mal in ihrem Leben Schnee erlebt hat an diesem Tag und schrecklich friert, aber ein sehr schönes Gedicht über einen Sommersturm in Australien vorträgt. Ein Anthropologe, der gerade aus dem Amazonas zurückgekehrt ist, bringt ein Lied vom Lebensbaum mit. Tja, und wie soll ich da ausschlagen, ein deutsches Gedicht zum Besten zu geben? Passend zur Saison (und weil es eines ist, was ich noch kann) wähle ich "Knecht Ruprecht". Meine Pantomime mit meinem Schirm als Rute löst große Erheiterung aus. 30 Leute, die zusammensitzen und sich was erzählen - wie herrlich! Und ein nettes schottisches Pärchen bittet mich sogar an ihren Tisch, damit ich nicht alleine sitzen muss. 

Ich bin natürlich nicht die erste und einzige, die die Freundlichkeit der Schotten und die Schönheit ihrer Hauptstadt entdeckt hat. Aber ich hätte nie damit gerechnet, dass der Typ, den ich auf dem Weihnachtsmarkt auf Englisch anquatsche, ausgerechnet ein Auswanderer ist  - aus Schwedt! 


Christian Schmidt preist auf dem deutschen Weihnachtsmarkt Glaskunst an


Christian Schmidt ist vor elf Jahren nach Edinburgh gezogen. Und nur eine Woche zuvor habe ich mit seiner Mutter beim gemeinsamen Adventskonzert der Schwedter Chöre auf einer Bühne gestanden! Kann mal jemand diese Wahrscheinlichkeit ausrechnen? Eigentlich ist Christian Krankenpfleger, aber in der Adventszeit hilft er einem Freund auf dem Weihnachtsmarkt aus. Denn auf einem deutschen Weihnachtsmarkt erwarten die Schotten einen deutschen Akzent des Verkäufers, auch wenn er aus der Schweiz oder aus Neuseeland kommen sollte. Tja, wenn mich eine Stadt bisher selbst zum Auswandern gereizt hat, dann diese...

Und weil der Blog jetzt schon zu lang ist, gibt es eine Fortsetzung. Nächstes Mal: Wie Edinburgh Autoren von Charles Dickens bis J.K. Rowling inspiriert hat.

Freitag, 28. November 2014

Wolf-Hype, Wolfsangst und eine Spurensuche

Ein Quadfahrer macht am Mittwochmittag an einem Feld bei Casekow eine Pinkelpause. Er zieht sich hinter einen Hügel zurück. Als er irgendwann aufsieht, steht oben auf der Kuppe ein Tier, das einem Wolf ziemlich ähnlich sieht, und beobachtet ihn. Der Mann ist geistesgegenwärtig: Er bleibt ruhig, geht langsam zu seinem Quad und zieht sein Smartphone heraus, um eine Videoaufnahme zu machen. Danach fährt er postwendend zum Nationalpark Unteres Odertal und zeigt die Bilder Dirk Treichel, dem hiesigen Wolfsbeauftragten.

Körperbau, Farbe Proportionen, das sieht alles ziemlich wölfisch aus, urteilt der - nur der Kopf scheint etwas zu hell. Und weil wir am Nachmittag sowieso einen Interviewtermin haben zum Thema Wolf, ruft er mich an und fragt, ob ich mit auf Spurensuche gehen mag. Nichts lieber als das! Ich bin 2006 bis in den Yellowstone geflogen, um endlich Wölfe in freier Natur zu sehen. Ein Wolf, nur 22 Kilometer vor Schwedt, das wäre für mich ein Traum.

Um es gleich zu sagen: Nein, die Spuren sind nicht eindeutig. Durch redaktionelle Kürzungen ist leider in dem Artikel, der von mir in der Zeitung darüber erschien, der Eindruck entstanden, es sei alles doch recht deutlich. Aber letztlich gibt es auch Hunde, die sehr wölfisch aussehen können, wie der Tschechoslowakische Wolfshund:

Diesen hier hab ich 2010 im Wolfcenter Dörverden fotografiert, wo er als Gast-Babysitter den Wolfswelpen Manieren beibrachte. Ich glaube, ohne den direkten Vergleich würde es mir auch schwer fallen, die spontan auseinander zu halten.

Aber die Spurensuche ist wirklich spannend. In zwei Stunden kann ein Wolf zwar ziemlich weit laufen (sie schaffen in einer Nacht zwischen 50 und 100 Kilometern, wenn sie's drauf anlegen), aber nach der Beschreibung schien er ja nicht gerade auf der Flucht zu sein. Als ich also über besagten Hügel klettere, entdecke ich erst mal ein totes Wildschwein - oder was davon übrig war. Nein, kein Wolf oder Hund hat es gerissen. Dirk Treichel, selbst Jäger, erkennt sofort, dass es jemand erschossen und professionell ausgenommen hat. Dass die Decke und der Kopf einfach so liegengelassen wurden, ist in Deutschland übrigens verboten. Interessant jedoch: Die Schnauze ist frisch angefressen. Das allerdings, weiß der Nationalparkleiter, können auch die anderen Schwarzkittel gewesen sein, immerhin sind die Allesfresser. Denn Wildschweinspuren finden wir einige zwischen Rapsfeld und der Fundstelle. "Aber das würde erklären, warum der mögliche Wolf nicht gleich weggelaufen ist - er wollte sein Futter nicht zurücklassen."


Durch das hohe Gras am Wegesrand ziehen sich Schneisen. Es liegen einige Federn herum. Abgebissen, nicht ausgerissen, wie es ein Raubvogel tun würde, sagt Treichel und zeigt mir die Schäfte. Jedes Mal, wenn ich den Kopf hebe, ist da das leise Herzklopfen: Steht er jetzt da? Liegt er da zwischen den Gräsern und beobachtet dich, unsichtbar und nur wenige Meter entfernt? Herzklopfen ja, aber nicht aus Angst, nur aus Vorfreude. Dass das anderen Menschen nicht so geht, wenn sie daran denken, dass sich ein Wolf in ihrer Gegend herumtreibt, weiß ich gut. Und dass man die Angst nicht einfach abtun darf, egal, welch großer Wolf-Fan man ist. Ich habe schreckliche Angst vor Spinnen und das ändert sich auch nicht dadurch, dass man mir tausendmal erzählt, dass sie harmlos sind. Trotzdem habe ich mir vorgenommen, so viel Aufklärung wie möglich zu betreiben. Vielleicht schaffen wir es eines Tages, das Rotkäppchen-Image loszuwerden.

Wölfe sind die echten Grenzgänger: Zwar galten sie rund 100 Jahre in Deutschland als ausgestorben, aber schon seit Anfang der 90er schwimmen Tiere von der polnischen Seite aus dem Zehdener Landschaftspark über die Oder, um dem Unteren Odertal eine Stippvisite abzustatten, sagt Treichel. Angesiedelt haben sie sich aber zuerst in der sächsischen Lausitz, auf Truppenübungsplätzen und im Braunkohleanbaugebiet - weit entfernt von der romantischen wilden Wildnis, als deren Symbol der Wolf gern verklärt wird. Der Wolf ist unglaublich anpassungsfähig, deshalb war er einst ja auch auf der ganzen Welt verbreitet, bis wir angefangen haben, ihn auszurotten.

Und dann der frische Pfotenabdruck!





Neun Zentimeter lang, das ist etwas klein für einen Wolf, der im Vergleich zum Körper riesige Patschepfoten hat. Zwischen den Blättern des Rapses ist es schwer, eine zusammenhängende Spur zu finden und wir können sie nicht lange genug verfolgen um zu sagen: Verläuft sie wolfstypisch schnurgeradeaus und kraftsparend statt in verspielten Wellenlinien, wie sich ein Hund bewegen würde? An einer anderen Stelle findet Treichel noch eine passende zweite Spur, verwaschen und mindestens zwei Tage alt. Treibt sich der Wolf also schon länger herum oder ist es doch ein Dorfhund, der regelmäßig stiften geht?

Die Spuren sind nicht eindeutig. Aber Wölfe wandern durchs Untere Odertal, das ist schon seit Jahren klar. Im Biosphärenreservat Schorfheide werden gerade immer mehr Tiere beobachtet. Wenn sich dort ein Rudel ansiedelt, könnte es sein, dass die sich regelmäßig mit der polnischen Population austauschen.

Für Aufregung hat in der Uckermark gerade der Fall von einer Jagdhündin aus Steinhöfel gesorgt, die auf dem Grundstück ihres Besitzers von einem Wolf attackiert wurde. Der Förster sprang spontan nackt aus dem Fenster und vertrieb den Wolf. Roland Ueckermann liebt seinen Hund sicher sehr, aber er behält meiner Meinung nach einen bewundernswert kühlen Kopf und stimmt nicht in irgendwelche Hasstiraden oder Angstmachereien ein. Aber er hat recht, wenn er sagt: Der Wolf muss Respekt vor dem Menschen haben. Im Yellowstone beschießen die Ranger Wölfe, die meist wegen Anfütterung durch Touristen zu zutraulich werden, mit Gummigeschossen.

Ein Wolf ist kein Kuscheltier (auch wenn ich mich sehr gefreut hab, mal welche streicheln zu können - 15 Wochen alt!).
Natürlich muss man vorsichtig sein, wie bei einem Wildschwein, bei einem fremden Hund, bei jedem (Wild-)Tier. Aber die gefühlte Gefährlichkeit des Wolfs steht in keinerlei Verhältnis zu seiner tatsächlichen, wie Elli Radinger ganz großartig in "Wolfsangriffe - Fakt oder Fiktion?" analysiert. Kinder können beruhigt weiter im Wald spielen, wenn sie sich mal von den Playstations losreißen können. Warum also ruft ausgerechnet der Wolf so extreme positive und negative Emotionen hervor? Dirk Treichel ist überzeugt, dass dabei auch das Verhältnis zum Nachfahre Hund als ältestes Haustier eine Rolle spielt. "Der Wolf war Gefährte und Konkurrent. Er ist sehr sozial und anpassungsfähig wie der Mensch - so hat sich über Jahrhunderte eine Hassliebe entwickelt."

Wer Natur rein nach Nützlichkeit betrachtet, der kann dem Wolf wahrscheinlich wenig abgewinnen. Er macht es nötig, Vieherden zu schützen (wofür es übrigens EU-Förderungen gibt) - so, wie es Züchter jahrhundertelang tun mussten. In Rumänien, wo der Wolf nie weg war, regt sich keiner über Nachtpferche und Herdenschutzhunde auf. Und wenn sich Wölfe ein paar Wildschweine vornehmen, würde es auch nicht schaden. Ich halte mich von der Philosophie her an Albert Schweitzer: "Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will." - mit welchem Recht teilen wir ein, wer bei uns leben darf und wer nicht?

Allerdings hilft es nicht, dass Medien, selbst wenn sie nicht reißerisch berichten, doch den Begriff "Wiederansiedelung" missverständlich verwenden. Biologen nutzen ihn anders als der Normalbürger - letzterer denkt sofort, jemand gibt Geld aus und betreibt Aufwand, um die Wölfe bewusst hierherzukarren und anzusiedeln. Und regt sich über die Geldverschwendung auf. Nein. Sie kommen von allein, weil sie sich wohlfühlen.

Und ich sage wie der Nabu: Willkommen. Und wenn man mal einem Wolf gegenübersteht wie (vielleicht) der Quad-Fahrer in Casekow, macht man's genau wie er: Selbstbewusst und entspannt stehen - ich bin nicht dein Beuteschema! Keine hektischen Bewegungen, den Wolf ruhig ansprechen und ihm sagen, er soll Leine ziehen. Langsam Rückzug antreten. Und in meinem Fall: Breit grinsen, ein Foto machen und auf den Wolken der Glückseligkeit davonschweben.

P.S. vom 30. Januar 2015: Eine genauere Auswertung des Handymaterials hat ergeben, dass es höchstwahrscheinlich kein Wolf war. Schon auf dem kleinen Bildschirm kam Dirk Treichel der Kopf zu hell vor, auf dem großen dann hat er auch noch Unstimmigkeiten im Körperbau gefunden. Schade!

P.S. vom 12.4.2015: Aus aktuellem Anlass: Hier eine etwas ausführlichere Anleitung, was zu tun ist, wenn man einem Wolf begegnet. 

Dienstag, 11. November 2014

Glaube, Vorurteile, IS: ein konvertierter Moslem erzählt


Warum berichtet der Spiegel nicht mal über normale Menschen, die zum Islam konvertiert sind, sondern immer nur über die, die fanatisch für die IS in den Krieg ziehen wollen? Die Frage hat ein Anrufer der Redaktion gestellt.
„Was ist denn Ihre Geschichte?“, fragt ihn der Journalist.
„Ich bin ein ganz normaler Typ.“
„Dann können wir es auch nicht drucken.“
Die Anekdote erzählt mir ein Bekannter, der seit fünf Jahren und einem Monat Moslem ist. „Das ist das Problem“, sagt er. „In den Medien verkauft sich nur, was spannend ist. Und da ist ein 19-Jähriger, der sich eine Kalaschnikow schnappt, interessanter, als die Konvertiten, die gar nicht auffallen.“
Deshalb möchte ich in diesem Blog mal seine Geschichte erzählen: Warum hat ihn der islamische Glaube überzeugt? Wie geht er im Alltag damit um? Was denken er und seine Gemeinde über die IS?

Du erzählst nur wenigen Leuten, dass du Moslem bist, und möchtest dieses Interview anonym führen. Warum?
Christen rennen auch nicht den ganzen Tag durch die Straße und sagen jedem, dass sie Christen sind – außer, sie missionieren gerade. Im Alltag kommt man einfach nicht dazu, das zu thematisieren. Auf der Arbeit weiß niemand von meinem Glauben. Mein Chef ist ein sehr offener Mensch, der hätte wohl Verständnis. Aber ich weiß nicht, wie andere Kollegen reagieren würden. Die Stimmung beim Thema Muslime war in Deutschland nie besonders gut. Seit dem 11. September und jetzt seit ein, zwei Jahren ist die öffentliche Meinung so negativ, dass ich besser nichts sage.

Aber fällt es nicht auf, wenn zum Beispiel Ramadan ist?
Wenn mich Kollegen mit in die Kantine nehmen wollen, sage ich einfach, dass ich später esse. Bisher ist es noch niemandem aufgefallen. Wenn ich bete, schließe ich für fünf Minuten das Büro ab. Beim Einkaufen schaue ich mir die Verpackung genau an, ob keine Gelatine drin ist. Aber da bin ich nicht paranoider als jeder Vegetarier.

Was ist mit deiner Familie?
Im Familien- und Freundeskreis weiß es eigentlich jeder.

Was haben deine Eltern gesagt, als du konvertiert bist?
In meiner Verwandtschaft gibt es viele christliche Strömungen: Katholiken, Methodisten, Lutheraner, Baptisten, Freikirchen. Mein Vater gehört einer kleinen christlichen Gemeinde an, meine Mutter ist nicht religiös. Ich wurde nicht getauft und konnte mir immer aussuchen, ob ich in den Gottesdienst gehen will oder daheim bleiben. So war ich völlig frei, meinen eigenen Weg zu gehen. Als ich meinem Vater erzählt habe, dass ich Moslem bin, hat er sich gefreut: „Schön, dass du auch an Gott glaubst.“ Meine Mutter hatte mehr Probleme, das zu verstehen. Beide haben sich Bücher geholt, um sich über die Religion zu informieren, und ich habe sie zu Moschee-Führungen und Konzerten mit islamischer Musik mitgenommen.

Wie bist du überhaupt auf den Islam gekommen?
Schon als Jugendlicher im Schulunterricht dachte ich, von allen Religionen ist der Islam die logischste.

Die logischste? Was hat Religion mit Logik zu tun?
Bei den Christen gibt es die Dreifaltigkeit und die Erbsünde, was ich nie akzeptieren konnte. Der Koran ist einfacher mit den Naturwissenschaften zu vereinbaren. Zum Beispiel wird beschrieben, dass sich der Mensch im Körper der Frau aus einem Samen entwickelt. Mohammed war ein Analphabet und ein Händler, woher konnte er das wissen?

Vor allem vor fast 1500 Jahren. Warum bist du dann erst später konvertiert?
Das war damals nur so ein Gedanke, aber ich habe nicht wirklich daran geglaubt. Ich hatte das Vorurteil, dass Islam etwas von und für Ausländer ist, eine Religion für Türken und Araber. Später habe ich andere Länder bereist und gesehen, wie Christen, Juden und Muslime zusammenleben – und sie sahen alle gleich aus, zum Beispiel im Balkan. Da habe ich angefangen, mich nicht nur intellektuell mit dem Islam auseinanderzusetzen, sondern auch spirituell. Aber es war eine lange Entscheidungsphase, über ein Jahr.

Warum so lange?
Um Muslim zu werden, musst du dich nicht taufen lassen oder Schulungen besuchen. Du musst nur zwei Dinge sagen: Ich bezeuge, dass es keinen Gott außer Allah gibt und Mohammed Sein Diener und Gesandter ist. Den ersten Teil hätte ich früher sagen können, denn ich glaube an einen monotheistischen Gott. Doch der zweite Teil, da musste ich erst mal nachdenken, was das für mich bedeutet.

Nur die zwei Sätze? Was ist mit den Regeln, dem Fasten und Beten?
Da steht kein bärtiger Mann hinter dir und passt auf, dass du alles richtig machst. Du könntest dich irgendwie durchwurschteln. Ich habe noch ein halbes Jahr lang Alkohol getrunken, später hatte ich einfach kein Bedürfnis mehr. Ich halte nur die Regeln ein, die mich überzeugen.

Gibt es welche, die dich nicht überzeugen?
Wenn man manche Strafgesetze aus dem Koran wörtlich nimmt, sind sie sehr hart. Ich denke, da muss man den Kontext beachten.

Zum Beispiel?
Eine muslimische Freundin von mir trägt in Deutschland kein Kopftuch. Der Hintergrund ist, dass im Koran steht, Frauen und Männer sollen sich bescheiden und unauffällig kleiden. Männer sollen zum Beispiel keine Seide und keinen Goldschmuck tragen, weil das protzig ist. Deshalb ist mein Ehering aus Silber. Also, meine Freundin argumentiert: Wenn ich in Deutschland ein Kopftuch trage, starren mich alle an. Damit verfehlt die Regel ihren Sinn. Das meine ich mit Kontext.

Was bedeutet der Glaube für dich?
Das lustige ist, dass ich mich gar nicht als besonders religiös sehe. Nicht jeder, der zum Islam konvertiert ist automatisch besonders eifrig! Für mich fühlt sich das islamische Gebet in der Gruppe einfach als die richtige Art zu beten an, und das gibt mir Halt. Es gibt auch eine muslimische Art zu meditieren, Dhikr, ähnlich einem Rosenkranz. Das brauche ich einmal im Monat um die Batterien aufzuladen. Allgemein ist im Islam die Ausübung der Religion fast wichtiger als die Inhalte des Glaubens, wodurch der Islam mehr mit dem Judentum gemeinsam hat als mit dem Christentum.

Welcher Strömung gehörst du an?
Das wird oft als Volksislam bezeichnet, so wie die türkische Oma, die nebenbei aus Teeblättern wahrsagt. Ich habe Kontakte in die mystische Richtung, zu den Sufis.

Wirst du manchmal komisch angeschaut, wenn du in eine Moschee gehst?
Selbst in ethnisch getrennten Moscheen kannst du beten und wirst in Ruhe gelassen. Moscheen sind anders als Kirchen, sie sind nicht geweiht. Alles ist sehr pragmatisch: Es gibt Teppiche auf dem Boden, weil es bequemer ist, wenn du dich auf die Knie wirfst. Du ziehst die Schuhe aus, damit du den Teppich nicht schmutzig machst. Unter der Kuppel verteilt sich der Schall besser. Du darfst jeden Zentimeter betreten, es gibt keine abgesperrten Bereiche. Ich habe einmal eine Moscheeführung für eine Schulklasse gemacht, die hatten uns im Zuge ihres evangelischen Religionsunterrichts besucht. Die Kinder waren enttäuscht, weil es gar nichts Mystisches und Verborgenes gab.

Wie hast du in deiner Stadt die Gemeinde gefunden?
Als ich hierhergezogen war, habe ich einfach ein paar Araber auf der Straße gefragt, wo es eine Moschee gibt. Die haben mir die Privatwohnung gezeigt, in der die Treffen abgehalten werden. Ich wohne in einer kleinen Stadt, wo die meisten Muslime Flüchtlinge sind. Da kommen viele verschiedene Menschen an, die nicht einmal die gleiche Sprache sprechen. Da fragt man nicht, welcher Strömung sie angehören. Die Predigt ist auf Arabisch und meistens zu allgemein erbaulichen Themen, nicht über Politik.

IS ist gar kein Thema?
Doch, tatsächlich hatten wir gerade eine Predigt auf Englisch, wo es um IS ging. Der Mann hat erklärt, dass sie vieles tun, was im Islam verboten ist. Im Koran stehst, du sollst andere Menschen, gerade Christen und Juden, mit Respekt behandeln. Du sollst niemanden mit deinem Gebet stören oder öffentlich zu Demonstrationszwecken beten. Du darfst keine Zivilisten töten, keine Alten, Frauen und Kinder angreifen. Dass die sich als Kalifat bezeichnen, das ist so, als würde sich jemand selbst zum Papst ausrufen. Er ist sogar so weit gegangen zu sagen, das sind keine Muslime. Da wäre ich vorsichtig.

Warum?
Nur Gott weiß, wer an ihn glaubt und wer nicht. Aber eins ist klar: Das sind Verbrecher, die sich nicht an den muslimischen Glauben halten.

Sagen das nur Mitglieder der gemäßigten Strömungen?
Nein, alle islamischen Verbände haben deutlich Stellung gegen IS bezogen. In einer konservativen Moschee, die ich im Sommer in Berlin besucht habe, hat ein Prediger gesagt: „Über IS rede ich nicht, ein heiliger Ort wie die Moschee ist es nicht wert, ein Wort über sie zu verlieren.“

Sind dir mal Extremisten begegnet?
Wenn mir ein Erwachsener sagen würde, er ist Anhänger der IS, würde ich die Polizei rufen. Bei einem Jugendlichen ist es schwieriger, weil das vielleicht nur Trotz ist oder Provokation. Da würde ich vielleicht erstmal versuchen, über die Gemeinde Einfluss auf ihn zu nehmen. Ruft man gleich die Polizei, kommt er sich wie ein Opfer vor. Zum Glück war ich noch nicht in so einer Situation. Aber ich habe mich schon mit Salafisten unterhalten, um zu schauen, wie die ticken. Sie haben mich sogar in ihre Moschee eingeladen.

Warst du da?
Ja, aber es ging in der Predigt nur um ein allgemeines Thema. Später habe ich versucht, einem Journalisten ein paar Interviewpartner aus der Gemeinde zu vermitteln. Deshalb habe ich dort jetzt Hausverbot, weil ich angeblich zu kritische Fragen gestellt hab. Das erzähl ich mit Stolz: Bei den Salafisten habe ich Hausverbot. Aber ich habe mir mal einen Vortrag von Pierre Vogel angehört.

Pierre Vogel ist ein Konvertit, der oft als Hassprediger bezeichnet wird und zu einem salafistischen Verein gehörte, den der Verfassungsschutz auflösen ließ.
Als ich zum ersten Mal ein Youtube-Video von ihm sah, dachte ich, das ist ein Kölner Karnevalist, der den Islam veräppelt. So radikal kann keiner sein! Es war interessant, ihn live zu sehen, aber ich hatte auch Angst, dass die Salafisten um mich herum erkennen, dass ich nicht zu ihnen gehöre. Er hat Charisma und kann auch lustig sein – das ist besonders beunruhigend. Das brauche ich nicht nochmal. Ich habe ihn aber ein zweites Mal gesehen, bei meiner Haddsch an einer Tankstelle in Medina.

Du hast also schon die Pilgerfahrt nach Mekka gemacht, die jeder Muslim einmal im Leben unternehmen sollte. Wie war das?
Mekka selbst ist eine hässliche Stadt. Es gibt viel Dreck, viele Autos und die Luft staut sich in diesem Tal. Ich bin körperlich weit über meine Grenzen gegangen. Aber es war ein besonderes Erlebnis.

Was war das Besondere?
Dort sind so viele Menschen, dass es der einzige Ort ist, wo Männer und Frauen gemeinsam beten. Ich bin mit meiner Frau händchenhaltend durch die Stadt gelaufen. Das ist so eine Reise, wo du hinterher kaum glauben kannst, dass du sie wirklich gemacht hast. Es war so abgefahren! Millionen Menschen sind auf diesem Platz, aber alle sind absolut ruhig.

Hat dich die Reise verändert?
Ich weiß nicht, ob das viel mit mir gemacht hat. Es heißt, viele Muslime werden durch die Haddsch offener und toleranter, weil sie dort so viele Menschen aus verschiedensten Ländern treffen.