Montag, 16. Oktober 2017

AfD, Tumulte auf der #fbm2017, Absage an Leipzig - ein paar Gedanken

Nein, ich habe  nach der Bundestagswahl nicht so lange geschwiegen, weil ich schockiert war, sondern schlicht, weil ich zu sehr von der Arbeit im Schraubstock gehalten wurde. Ja, es sitzen, um es mit dem SPD-Kandidaten TSG zu sagen, erstmals seit 1945 wieder Rechtsextreme im Bundestag (zumindest offiziell). Die AfD ist die drittstärkste Kraft und hat in manchen Wahlkreisen noch viel höhere Prozentpunkte erreicht. Aber so zynisch das klingt: Ich hatte im Vorfeld Angst, dass es noch schlimmer kommt.

Diese 12,6 Prozent sind in etwa die Zahl, die ich schon seit Jahrzehnten (ich bin alt genug, um den Begriff zu gebrauchen) höre als der Anteil latent rechtsradikalem Gedankenguts, der sich durch alle Bevölkerungsschichten zieht. Wohlgemerkt, durch ALLE. "In der Mitte der Gesellschaft angekommen" schrieb da die taz schon 2010, und wer mal richtig tief einsteigen will, findet von der Uni Göttingen eine interessante Analyse von 2015 speziell zur Rassentheorie, die wir als Deutsche doch überwunden haben wollten oder sollten.

Sehr gut kann ich deshalb den Tweet verstehen, der die Runde gemacht hat: "Heute ist der letzte Tag, an dem man als Deutscher sagen kann: "Deutschland hat aus seiner Geschichte gelernt." Aber ich bin nicht überrascht und ich bin nicht die einzige damit. Die Theorie mit der "Mitte der Gesellschaft" wird auch gestützt durch die Reaktionen von Zeit-Online-Lesern, denen man gemeinhin nicht unterstellt, zu den durchschnittlichen Internettrollen zu gehören, und die nach der Wahl aufgefordert wurden, ihre Wahl für die AfD zu erklären. Viele können das auf sprachlich und argumentativ hohem Niveau, aber trotzdem zeigen die Antworten, dass es eher eine Wahl dessen war, was man NICHT wollte: Wenn die AfD als einzige die diffusen Ängste vor der Migrantenflut bedient, blendet selbst der intelligenteste Mensch alles andere aus, wie es scheint. "Wovor habt ihr eigentlich Angst?", hat der Tagesspiegel schon im vergangenen Jahr gefragt und vorgerechnet, wie gut es Deutschland immer noch geht.

Dabei spricht er aber auch "ihr da in Dresden" direkt an. Ja, Sachsen ist schnell als Prügelkind identifiziert worden. In der Autoren-Community hat das "Bundesamt für magische Wesen" prompt für einen Aufreger gesorgt mit der Ankündigung, sich wegen der Wahlergebnisse nicht mehr im Osten wohlzufühlen und aufgrund von Anfeindungen aus der Vergangenheit nicht zur Leipziger Buchmesse 2018 zu kommen. Ganz davon abgesehen, dass das BAfmW bereits 2016 aus ganz anderen Gründen nicht dabei war, haben sie schnell verständnislose Reaktionen geerntet, von "Wie kann man ein ganzes Bundesland pauschal verurteilen?" über "Es kommen ja nicht nur Sachsen zur Buchmesse" bis hin zu "Jetzt erst recht!".

Auf der Frankfurter Buchmesse hat der Versuch, die "Meinungsvielfalt" zu wahren, indem man einen Verlag als Freund rechten Gedankenguts unmittelbar mit "Linken" flankiert, zu friedlichen Protesten und später Tumulten geführt. Auch wenn ein Teil von mir versucht, die Organisatoren zu verstehen, gehört mein Herz der Aussage, die eine Freundin von mir twitterte: "Hass ist keine Meinung." Sehr gut analysiert hat das in meinen Augen der Blog von "Fisch und Fleisch": "Der Ausrichter ist eine private Organisation. Es besteht für ihn keinerlei Verpflichtung, das gesamte Spektrum an politischen Haltungen abzudecken. Es besteht auch keine Veranlassung, auf einer internationalen Veranstaltung eine Diskussion zuzulassen, die sich Begriffen wie 'Migrantengewürm' bedient. Einen bekannten Neonazi zu hofieren, während ein verletzter Gegendemonstrant des Hauses verwiesen wird und Messeverbot erhält – all das bleibt in höchstem Maße erklärungswürdig."

Diese Ereignisse zeigen aber wieder: Das war Frankfurt, nicht Leipzig. Die Wählerstimmen aus dem Osten hätten allein nicht ausgereicht, die AfD so stark zu machen.

Das BAfmW spricht von einer ganz persönlichen Erfahrung und einem ganz persönlichen Gefühl in Bezug auf die LBM-Absage. Also teile ich meine ganz persönliche Erfahrung: Ich bin im ländlichen Hessen aufgewachsen (im Villmarer Ortsteil Seelbach wählten übrigens 18,1 % AfD), habe in Bayern studiert, in Stuttgart und Hamburg gearbeitet, ein Praktikum bei einer deutschsprachigen Zeitung in Kanada gemacht (Zielgruppe u.a. Heimatvertriebene) und dann im Osten Brandenburgs ein Zuhause gefunden. Einen großen Schock hatte ich als Jugendliche, als mich ein Kumpel zum Abendessen nach Hause einlud und zum normalen Tischgespräch gehörte, über "die Russen" vom Aussiedlerhof herzuziehen. Ich habe in allen Teilen Deutschlands die gleichen Diskussionen über Vorurteile und Fremdenhass geführt, in Kanada fast mein Praktikum geschmissen über einen mehr als unsensiblen Artikel über den Holocaust, den der Chef auch unbedingt als "Meinungsvielfalt" drin haben wollte. Ja, ich höre hier in Schwedt Sprüche, sogar von engen Bekannten, die nachts angeblich nicht mehr heimlaufen wollen, seit die Flüchtlinge hier wohnen, und ich wurde auch schon richtig laut und wütend, weil ich manchmal einfach nicht an mich halten kann bei zu viel Ignoranz und mangelndem Mitgefühl. Aber das passiert mir nicht öfter und nicht seltener als überall sonst.

Der Osten allgemein und Sachsen speziell haben nicht den Rechtsradikalismus für sich gepachtet. Man muss ihm in ganz Deutschland entgegentreten. Und ich freue mich auf die Buchmesse nächstes Jahr.