Montag, 7. Dezember 2015

Kinder und der Wolf: Über den Unterschied von Klischee, Angst und Vorsicht


"Die sind doch gar nicht böse!" Hach, was liebe ich Kinder manchmal. Gerade haben wir die ganzen Märchen durchgehechelt und analysiert, welchen Eigenschaften dem Wolf darin zugeschrieben werden: intelligent, hinterhältig, böse. Aber wenn ich sie frage, warum der Wolf so böse ist, bekomme ich diese Antwort. Weil sie das Fabelwesen im Kopf gar nicht mit dem konkreten Tier in Verbindung bringen. Weil sie zwar die Geschichten kennen, aber die Vorurteile (noch) nicht verinnerlicht haben. Deshalb finde ich es so wichtig, mit Wolf-Seminaren an Schulen, Mehrgenerationenhäuser, sogar Kindergärten ranzugehen.


Ängste sind trotzdem da, auch wenn Kinder es nicht immer zugeben wollen. Wenn ich ihnen am Beginn ein Wolfsheulen vorspiele, sind mir schon manche zusammengezuckt - andere haben umso breiter gegrinst. "Gruselig" klingt es, und wenn sie sich vorstellen, alleine im Wald sowas zu hören ... Aber wann sind Kinder mal alleine im Wald? Die bislang naheste Begegnung mit einem Wolf in Deutschland hatte eine Hundebesitzerin aus Niedersachsen - und wenn die Jäger sich darüber beschweren, dass sie nichts anderes machen könnten, als den Wölfen klatschend hinterherzurennen, sage ich nur: Ja, macht das! Wenn ein Wolf zu wenig Scheu zeigt, greift man im Yellowstone Nationalpark auch erstmal zu Verschreckungsmaßnahmen. Warum wird immer gleich nach dem Abschuss geschrien? Neugierige Wölfe und faule Wölfe, die die kürzeste Strecke durch ein Wohngebiet nehmen, sind nicht automatisch gefährlich.


Kinder sind da noch ganz weltoffen. Als ich beim Jubiläumswochenende der Stadt Schwedt mit meinem Infostand in der Fußgängerzone war, konnte ich das selbst erleben. Aber auch über die kritischen Fragen der Erwachsenen hab ich mich gefreut. Das ist besser, als mit bösem Blick vorbeizugehen und im letzten Moment "Abknallen sollte man se!" zu zischen. Das nützt niemandem was. Besser ist es, darüber zu sprechen, wie man sich verhält, wenn man einem Wolf begegnet, über Schutzmaßnahmen für Nutztiere ... Ich verstehe Landwirte, die sich über den Mehraufwand ärgern. Aber, ganz ehrlich: Jahrhundertelang haben die Menschen Schafe gezüchtet, nur im letzten mussten sie dabei auf Übergriffe von Raubtieren verzichten. Ich denke, wir müssen uns einfach darauf besinnen, wie der Job richtig gemacht wird. Wer allerdings die Welt rein nach "Nützlichkeit" einteilt und alles, was ihn irgendwie stört, abknallen, abhacken, wegreißen will - mit dem ist es schwer zu diskutieren, weil wir eine zu unterschiedliche Philosophie vom Leben haben.


Mittlerweile hab ich schon eine kleine Sammlung an Bildern, die Kinder in meinen Seminaren malen. Das hier von Pauline finde ich super: Mama Wolf bringt dem Welpen einen toten Hasen - da ist nichts beschönigt, verhätschelt, aber da ist auch keine Angst. Der Wolf ist ein wildes Tier, nicht mehr und nicht weniger. Und das Thema spricht gerade Jungs an: Bei zwei Vorlesetagen an der Schwedter Grundschule am Waldrand habe ich schon feststellen können, dass gerade die, die sonst gern auf dem Stuhl rumzappeln, mir bei Wolfsgeschichten förmlich an den Lippen kleben. Wenn es zur großen Pause klingelt und Kinder still sitzen bleiben, weil sie hören wollen, was ich noch zu sagen hab - ein größeres Kompliment kann man nicht kriegen.

Verstehen lernen: Bei Wölfen geht viel über die Körpersprache


Die Wölfe sind da. 37 Rudel und sechs Paare nach dem aktuellen Stand. Ich musste zwar noch auf die andere Seite von Berlin fahren, um eine (höchstwahrscheinlich) echte Wolfsspur zu finden (obwohl wir schon soooo gesucht haben).

Kleinere Hinterpfote sauber in den Abdruck der größeren Vorderpfote gesetzt,
 schnurgerader Verlauf über hunderte von Metern - könnte das Original sein

Sie sind freiwillig gekommen, weil sie sich hier wohlfühlen, weil es schon früher ihr Zuhause war. Sie brauchen keine Wildnis. Mit Vorsicht und Respekt können wir gut zusammenleben. Ich freue mich immer noch auf meine erste "deutsche" Wolfsbegegnung.

P.S. Der Titel des Beitrags ist natürlich an "Peter und der Wolf" angelehnt. Hab's gerade mal wieder gehört und dachte mir: Für seine Zeit - 1936 - ist es geradezu erfrischend, wie wenig echte Böse-Wolf-Klischees darin vorkommen. 1. Hat nur der Großvater vor dem Wolf Angst (der Alte, der die Schauergeschichten kennt), nicht Peter. 2. Kommt der Wolf erst aus dem Wald, nachdem die Menschen von der Wiese verschwunden sind. 3. Schnappt er sich die Ente, das langsamste und dümmste Tier, das nicht mal zu fliegen versucht. Dass die Jäger wild auf den Wolf losballern, der schon längst gefangen ist, finde ich auch interessant. Ein Glück nur, dass in Realität Wölfe nie Beute lebendig verschlucken. Nie wird gesagt, dass die Ente märchenmäßig aus dem Bauch befreit wird - also wird sie jetzt langsam und qualvoll verdaut?

Freitag, 20. November 2015

Lektorin im Interview - also ich

Bislang bin ich diejenige gewesen, die Interviews geführt hat. Mal auf der anderen Seite zu stehen, hat einen Riesenspaß gemacht. Autorin Charlotte Cole, eine meiner Selfpublishing-Kunden, hat sich ein paar lustige Fragen an ihre Lektorin ausgedacht: http://charlottecolewrites.com/2015/11/19/wanderlust-vampire-pralinen-ein-interview-mit-meiner-lektorin-andrea-weil/

Mittwoch, 18. November 2015

Paris, Terror und persönliche Angst

Habe ich Angst?

Ich glaube, irgendwann um halb zwei in der Nacht von Freitag auf Samstag, als ich immer noch mit vor Müdigkeit brennenden Augen vor dem Fernseher saß und die Nachrichten aus Paris verfolgte, hatte ich einen kurzen Moment lang dieses "Als nächstes Berlin"-Gefühl, das mir den Magen zusammenpresste. Aber nur für den Bruchteil einer Sekunde. Ich habe mal versucht, mir vorzustellen, wie es wäre, wie meine syrische Freundin Nadra aus meiner umkämpften Heimat zu flüchten. Habe versucht mir vorzustellen, das Knallen abends sei kein Polenböller, den ein übermütiger Jugendlicher losgelassen hat, sondern Geschützfeuer. Habe mich in der Wohnung umgesehen und überlegt, was ich einpacken würde, wenn ich nur fünf Minuten hätte zur Flucht. Aber auch wenn ich Fantasie habe, ich fühle es nicht. Alles bleibt an der Oberfläche.

Das ist sicher eine Art Schutzmechanismus meines Gehirns. Empathie ja, aber bitte nicht so viel, dass mich die Angst lähmt. Oder die Arroganz des jungen Menschen, der nie ernsthaft verletzt wurde und sich unbewusst für unsterblich hält? Vor gut zwei Jahren wurde ich mit Verdacht auf Krebs ins Krankenhaus gesteckt und eine Woche lang komplett umgekrempelt auf der Suche nach einem Tumor. Als mir die Ärztin das am Telefon ankündigte, brach ich erstmal in Tränen aus. Doch gleich darauf folgte eine seltsame Taubheit, und am nächsten Morgen war ich völlig ruhig. Das konnte einfach nicht sein, Punkt. Und es war am Ende tatsächlich nichts. Trotzdem war diese Woche, in der ich dachte, ich könnte sterben, wohl der Auslöser, dass ich mein Leben komplett umgekrempelt und mich selbständig gemacht habe. Mich auf das besonnen habe, was mir wichtig ist. Aber nicht sofort, nicht wie im Film. Das ging schleichend über Monate.

Mitfühlen hat auch mit Nähe zu tun. Am Freitag dachte ich plötzlich wieder an den Ex einer Cousine, der Polizist in Paris ist. Dabei ist es rund 20 Jahre her, dass die beiden sich getrennt haben. "Nähe" ist ein Nachrichtenwertfaktor. Deswegen sind wir von Paris mehr aufgestört als von dem Krieg in Syrien. Umso beeindruckender finde ich, dass sich viele Libanesen jetzt solidarisieren. Gestern also eine Drohung gegen das Länderspiel in Hannover. Terrorwarnung statt Zeichen gegen Terror. "Die Lage ist ernst." Der Innenminister will keine Details nennen, um die Bevölkerung nicht zu beunruhigen - eine Aussage, die erst recht beunruhigt.

Habe ich Angst? Nein.

Helge Schneider übrigens auch nicht. Zumindest spielt er Gelassenheit in dem Video, in dem er die Absage seiner Veranstaltung verkündet. Ich glaube, jenseits der Darbietung mehr Wut als Angst zu erkennen. Wut auf die Terroristen, die sich einbilden, einen gerechten Krieg gegen Ungläubige zu führen oder was auch immer. Und Trotz, dass sich niemand unterkriegen lassen soll. "Wenn das so weitergeht und ich am Ende morgen auch nochmal absagen muss - dann komm ich Donnerstag wieder."

Also nicht nur ein Schutzmechanismus, sondern auch Trotz. Wieder stand Paris im Fokus der Terroristen und eine Konzerthalle, wo sich nach dem Bekennerschreiben der IS "Götzendiener" träfen. Dass sie sich den Abend des Freundschaftsspiels zwischen Deutschland und Frankreich ausgesucht haben, zeigt, dass sie uns alle treffen wollten. Uns? Unwillkürlich habe ich dieses Wort verwendet. Doch so, wie mir Anfang des Jahres das "Je suis Charlie" im Hals steckenblieb, kann ich jetzt auch nicht "Je suis Paris" teilen - weil ich nicht in dieser Situation war, weil ich es, wie gesagt, nicht wirklich mitfühlen kann, obwohl ich mitfühle. Ja, natürlich ist das einfach eine Art der Solidaritätsbekundung, aber das sollte jeder auf die Art machen, mit der er sich wohlfühlt. Umgekehrt ist mir auch schon in einem Forum angedeutet worden, ich sei ein Heuchler, der mit dem Mitleidsstrom schwimmt, weil es gerade "in" ist. Solche Diskussionen, wie sie gerade online geführt werden, machen mich genauso fassungslos wie Oliver Kalkofe. Das ist der Opfer einfach nicht würdig.

Beten kann ich auch nicht für Paris, denn ich bete nicht. Ich kann Joann Sfar, den Karikaturisten von Charlie Hebdo, sehr gut verstehen mit seiner Botschaft. Bei allem Respekt vor dem ehrlichen Glauben mancher meiner Freunde, ich frage mich manchmal auch, ob die Welt ohne Religion als (vorgebliche) Begründung für Kriege besser dran wäre. Auf der anderen Seite geben Gebete vielen Menschen Kraft, um solch schwere Zeiten durchzustehen, und jede enthält eine Friedensbotschaft. Es gibt eben keine einfachen Antworten auf der Welt, wenigstens nicht auf die entscheidenden Fragen. Auch wenn die, die sie scheinbar liefern, gerade wieder populär werden. Auch wenn ich sie mir manchmal selbst wünschen würde. Aber da muss ich halt durch.

Donnerstag, 5. November 2015

DDR-Alltagsgeschichten aus Schwedt



Als das Publikum anfing, an den richtigen Stellen zu lachen, hat sich in meinem Innern ein richtiger Knoten gelöst. Gestern hab ich meine erste Lesung eines eigenen Werks erfolgreich über die Bühne gebracht: Weißt du noch? Mitten aus'm Schwedter DDR-Alltag. 

Zu jung, zugezogen, Wessi - kein Wunder, dass der Verlag am Anfang leichte Besorgnis anmeldete, ob ich die richtige Autorin für diesen Beitrag zu ihrer Serie wäre. Aber ein Telefongespräch und die Fürsprache des Stadtmuseums haben diese Zweifel ausgeräumt, und vor allem die ersten Leseproben. Monatelang war ich in der Stadt unterwegs und quetschte über 30 Interviewpartner zu den verschiedensten Lebensbereichen aus, durchstöberte Archiv und Chroniken, und am Ende hat Frau Dittberner noch die kleinen Fehlerchen korrigiert, die sich so einschlichen. Für Schwedter ist es so selbstverständlich, dass die Centra-Gaststätte "Schwarzer Panther" genannt wurde, wie sollte ich ahnen, dass das nicht zwei verschiedene Lokale waren?

Vergangene Woche hab ich mir dann so richtig schön den Rücken verramscht, als ich das Bücherpaket aus der Post zum Auto trug. Ich hätte mir den Lieferschein vorher ansehen sollen: 32 Kilo, danke schön. Aber das Gefühl, die Nase in das druckfrische Buch zu halten, hat alles wieder wett gemacht.



Das Manuskript hatte ich ja schon vor Monaten beim Verlag abgegeben und ganz aus den Augen verloren. Jetzt durchblättern und feststellen: Schön ist es geworden, das war toll. Auch wenn man gleich ein kleines schlechtes Gewissen hat: Ist das jetzt eitel? Nee, warum soll man sich nicht über eine gute Arbeit freuen, nur weil es die eigene ist?

Ruft der Kollege aus der Zeitungsredaktion an. "Hast du ne Minute?"
"Klar", sage ich und denke, er hat einen Auftrag für mich.
"Wie alt bist du eigentlich?"
Rausgekommen ist ein Artikel, der mich schon deswegen stolz macht, weil ein Einheimischer mir bescheinigt, den richtigen Ton getroffen zu haben. Die Gratwanderung ist mir gelungen, nicht in Ostalgie abzugleiten und zu beschönigen, aber eben doch die Menschen anzusprechen, die in diesem Land einfach auch gelebt haben und die zurecht nicht wollen, dass ihre Leistungen abgetan werden. Neben der Arbeit noch ein ganzes Waldbad zu bauen, ist für Laien kein Pappenstiel! Das moderne Krankenhaus, die Kitas...


Am Dienstag haben dann einige Passanten nicht schlecht geschaut, als ich für Uckermark-TV einen Sitzsack durch die Gegend schleifte und einfach so vor dem Kaufhaus anfing, laut vorzulesen. Natürlich war ich aufgeregt, aber zum Glück hat mich das nicht dran gehindert, zu lesen und im Interview rüberzubringen, was mir wichtig ist. Übung macht halt doch den Meister. Als ich zum ersten Mal für meinen Chor beim Frühlingskonzert Gedichte vortragen sollte, ging mir die Stimme weg. Jetzt bin ich sogar zur Moderatorin ernannt und hab mal einen Gottesdienst gehalten (andere, lange Geschichte), da weiß ich wenigstens, dass ich mich auf meine Stimme  verlassen kann.



Aber die ersten paar Minuten im Berlischky-Pavillon (tolle Akustik, hab ich schon beim Chorauftritt geliebt!) vergingen trotzdem ein bisschen wie im Nebel. Danke übrigens an Herrn Scheffler, dem ich meinen Fotoapparat in die Hand drücken durfte. Kleine Anekdoten lassen sich zum Glück recht leicht vorlesen, mit den passenden Bildern noch dabei, dass mich nicht alle anstarren. Wenn ich mal durcheinanderkam, trat ich die Flucht nach vor an - "Oh, da hab ich mich gerade verhaspelt, ah, hier geht's weiter" - und das Lachen war freundlich. Ein paar meiner Interviewpartner waren da und drückten mir am Ende warm die Hand, das ist das schönste Lob, dass sie sich in dem Buch wiederfinden.

Mal sehen, wie das wird, wenn ich erstmal ein komplett fiktionales Werk in Händen halte. Der Vertrag für meinen Vampirroman ist ja schon unterschrieben. Das Genre ist immer noch nicht ausgelutscht in meinen Augen, höhö.

Freitag, 30. Oktober 2015

#allhallowsread: Keine Gruselgeschichte

So, morgen bin ich auf einer Quasi-Halloweenparty und hab keine Zeit, um Videos zu drehen, aber ich möchte trotzdem einen kleinen Beitrag zum All Hallows Read leisten. Letztes Jahr habe ich einen Klassiker gelesen, das Gespenst von Canterville. Aktuell gäbe es genügend Gruselgeschichten mit realem Hintergrund, aber in meinem Bücherregal was zu finden, war gar nicht leicht. Deswegen habe ich mich stattdessen für eines meiner absoluten Lieblingsbücher entschieden, "I see by my outfit" von Peter S. Beagle, und versucht, die Sprachbarriere zu überwinden.

P.S. Und wer wieder über Halloween maulen will, den verweise ich ebenfalls auf meinen Blogbeitrag von 2014 zu dem Thema bööööööööse Amerikanisierung.


Samstag, 10. Oktober 2015

Flüchtlinge sagen: Danke Deutschland!



Heute haben syrische Flüchtlinge in ganz Deutschland Rosen verteilt, als Dankeschön, dass sie bei uns eine sichere Zuflucht finden konnten. Ich bin mit einer Gruppe durch das Schwedter Oder-Center gelaufen. Nadra hatte mich dazu eingeladen - und mir die erste Rose überreicht. Ich habe sie und ihre Schwester am Donnerstag zufällig auf der Straße getroffen, zusammen mit Wenke Paul, die in der Flüchtlingsunterkunft Deutsch unterrichtet. Um den beiden allerdings dabei zu helfen, den notwendigen Anmeldekram auf dem Amt zu erledigen, konnte sie nicht gut genug Englisch. Also  sprang ich spontan als Übersetzerin ein. Nadra spricht ausgezeichnet Englisch, sie hat vor dem Krieg in Aleppo Informatik studiert. Auf der Flucht lernte sie innerhalb von drei Monaten Türkisch, deshalb bin ich mir sicher, dass sie auch das Deutsche bald meistern wird, mit der richtigen Anleitung. Sie möchte gern ihr Studium beenden.


Dieser Nachmittag hat mir gezeigt, dass leider momentan viele Zuständige offensichtlich ziemlich überfordert sind: Das Bundesamt in Eisenhüttenstadt hat Nadras Unterlagen nach Prenzlau geschickt statt nach Schwedt, die Organisatoren im Flüchtlingsheim schickten sie zum Rathaus I, dabei sitzt die Ausländer- und Meldebehörde in Rathaus 2, Übersetzer gab es auch keine. Wettgemacht wird das durch nette Beamte, die sich nicht als strenge Paragraphenreiter aufführen. Denn obendrein hat das Bundesamt vergessen, Nadras vorläufige Erlaubnis, sich in Deutschland aufzuhalten, bis über ihren Asylantrag entschieden ist, zu verlängern. Als ich ihr das übersetze, bricht sie fast in Tränen aus: "Heißt das, ich bin jetzt eine Illegale?" Nein, beruhigt sie die Schwedter Beamtin, sie kümmert sich um alles.

Dass in Ostdeutschland gerade die älteren Menschen nicht besonders gut Englisch können, macht die Kommunikation nicht leicht. Aber den Mittelfinger, den ihr ein paar junge Männer aus dem Auto heraus gezeigt haben, hat Nadra sehr gut verstanden. Nicht immer fühlt sie sich sicher auf der Straße, gibt sie zu. Aber im Oder-Center hat sie heute ein paar schöne Begegnungen. Tatsächlich lehnt mal der ein oder andere die Rose mit einem bösen Blick ab, aber vielleicht denkt er auch nur, die Gruppe will was verkaufen. Andere reagieren begeistert, fragen nach, sagen "Herzlich willkommen", machen Fotos. Irgendwann muss sich Nadra die Tränen der Rührung aus den Augen wischen.

Seit einer guten Woche sind wohnen die Schwestern in der zur Unterkunft umgebauten ehemaligen Ehm-Welk-Schule. Dass kurz vor ihrem Einzug ein paar Nazi-Arschlöcher eine Kundgebung vor dem Gebäude gemacht haben, erzähle ich ihr lieber nicht. Die hatten auch nicht wirklich viel Publikum - aber eben leider auch nicht viel Gegenwehr. Kaum ist der Organisator des Bündnisses gegen Fremdenfeindlichkeit in Schwedt in Urlaub, kriegt keiner so richtig einen Protest organisiert. Mit zwei Handvoll Leuten hab ich also im Nieselregen gestanden und den Idioten Bier vorgetrunken - sie hatten nämlich bei ihrem Facebook-Aufruf extra ermahnen müssen, dass Alkohol nicht erwünscht sei auf der Kundgebung. Die kennen wohl ihre Pappenheimer.

Heute also lieber Rosen, Lächeln und Dankeschön. Und weil das Wetter so toll ist, machen wir zu dritt noch einen Ausflug ans Bollwerk. denn die richtig schönen Ecken von Schwedt haben Nadra und ihre Schwester noch gar nicht gesehen. Am glitzernden Wasser müssen sie gleich an ihre Heimat denken, die Gebirge, das Mittelmeer. Doch die Landschaft ist durch den Krieg genauso zerstört wie die historische Zitadelle von Aleppo. ISIS und der syrische Islam haben nichts miteinander zu tun, versichert sie mir. Auch wenn sie ein Kopftuch trägt, kennt sie ihre Heimat als offenes Land, in dem sie wie viele Frauen ihr Studium begann, wo viele verschiedene Religionen zusammenleben. Dann kamen die Fundamentalisten und behaupteten auf einmal, sie seien keine echten Muslime. Verrückte und Verbrecher sind das, sagt Nadra. Doch leider werden zu schnell alle Muslime in einen Topf geworfen, wie mir schon ein Konvertit im Interview sagte.

Ausgerechnet die Geschichte Europas macht Nadra Mut: Nach dem zweiten Weltkrieg lag nicht nur Deutschland in Trümmern, aber Europa hat sich aufgerafft, alles wieder aufgebaut, ist heute friedlich und erfolgreich. Denn wenn der Frieden kommt, will sie sofort wieder nach Hause und Syrien aufbauen helfen. Heimat ist einfach Heimat.

Dass die Deutschen für alles ein System haben und Dinge einfach funktionieren - und wenn nur der Bus pünktlich abfährt -, das bewundert Nadra sehr. Aber ihr fällt auch auf, wie leer die Schwedter Straßen sind, wie wenig junge Leute man sieht und dass hier offenbar nicht so viel gefeiert wird, wie sie es von Zuhaus gewohnt ist. Am Bollwerk aber gefällt es ihr sehr. Der Eismann gibt spontan Waffeln und Kaffee aus als Willkommensgeschenk und setzt sich dazu, um über die unterschiedlichen Kulturen zu plaudern. Nadra freut sich so über diese Herzlichkeit, dass sie ihn zum Abschied umarmt.




Das war für mich ein wunderschöner Nachmittag mit neuen Freunden. Auch wenn nicht jeder überschüssige Klamotten im Schrank hat oder sich zum Deutschlehrer berufen fühlt - einfach nur mit den Neuankömmlingen plaudern und ihnen ein freundliches Gesicht zeigen, das kann schon so viel ausmachen. Und passend ist auch heute meine Posterbestellung eingetroffen:


Ich freue mich aufs nächste Treffen!

Freitag, 18. September 2015

Stuntfrau schlägt Makler nieder



Jaja, lasst mir mal den Spaß einer irreführenden Überschrift - die Aufklärung kommt noch. Heute geht's um eine Grenzüberschreitung, die ich nicht selbst erlebt, sondern nur hautnah dokumentiert habe: Meine Freundin Moni hat sich den Spaß gemacht, im Filmpark Babelsberg an einem Stuntman-Workshop teilzunehmen. Ich bin mir sehr sicher, dass das eine Grenzerfahrung ist, die ich selbst nie teilen werde. Ich bin Realist: So unsportlich, wie ich bin, würde ich mir schon bei der ersten einfachen Übung was zerren, brechen oder im besten Fall schlicht außer Atem kommen und umfallen. Deshalb war ich sehr zufrieden damit, den ganzen Tag neue Funktionen an meiner geliebten neuen Kamera auszutesten. Auch wenn es mich am Ende ziemlich gejuckt hat, mich auch mal an das Dach eines fahrenden Autos zu klammern.


Moni dagegen hat schon einiges an Kampferfahrung. Schließlich betreibt sie seit Jahren mit ihrem Mann Schaukampf. So haben wir uns überhaupt kennengelernt: Ich ging die Straße entlang, als plötzlich vor mir ein Mann mit einem Degen - ach, Entschuldigung: einem Rapier - aus einer Garageneinfahrt sprang. So hatte sie wenig Probleme mit den Faust- und Stockkämpfen in dem Wochenendkurs.


Größere Überwindung, verriet sie mir später, kostete es sie, auf den schmalen Leitern der Kulisse im "Vulkan" herumzuklettern, auch wenn natürlich niemand von ihnen verlangte, aus 20 Metern runterzufallen, wie es in der Stuntshow geschieht.


100 Euro pro Meter Fall bekommt ein Profi übrigens, wenn er an einem Filmset ist. Es ist sehr faszinierend, Christoph, Martin und Co zuzuhören, wenn sie von ihrer Arbeit erzählen. Wehtun gehöre einfach dazu, je gefährlicher ein Stunt, desto höher das Honorar. Es wundert mich nicht, dass in diesem Jahr nahezu alle Action-Film-Fans feuchte Augen bekamen angesichts der unglaublich gut gemachten praktischen Effekte von "Mad Max Fury Road", vor allem, weil wir lange Zeit mit miesen Computeranimationen zugedröhnt wurden. Aber jetzt, wo ich die Stuntleute mal so genau beobachten konnte, mache ich mir doch ein wenig Sorgen, ob wir mit unserem Wunsch nach realistischer Gewalt in Filmen nicht zu viele Menschen in reale Gefahr bringen.


Aber die Stuntleute nehmen das natürlich recht gelassen. Erstens sind sie gut trainiert ("Die Show ist unser Training. Nach einer Dreiviertelstunde davon bist du körperlich total am Ende.").


Zweitens gibt es genaue Absprachen und Sicherheitsvorkehrungen, die sie auch in ihrem Workshop weitergeben. "Hartsein ist Kinderkram. Draufgänger können wir nicht gebrauchen", sagt Martin. Sind das nicht zwei großartige Sätze? Nur, wer einen kühlen Kopf bewahrt und sich an die Regeln hält, kann im Team mitspielen.


Drittens ist aber jedem klar, dass früher oder später irgendwas passieren wird. Jeder, der im Vulkan arbeitet, habe einmal eine ernsthafte Verletzung gehabt, meist direkt am Anfang seiner Karriere. "Das lehrt Respekt." Damit ist kein gebrochener Zeh gemeint oder ein Muskelriss, sondern etwas, das Monate und Monate an Reha benötigt. Wer danach wiederkommt, der bleibt dabei - und hat künftig mehr Respekt vor den Risiken.


Die Kursteilnehmer sind umso mehr von der Show beeindruckt, für die an beiden Tagen die Fortbildung unterbrochen werden muss - gerade weil sie am eigenen Leib erleben, wie schwer es ist, alles zu choreografieren. Am Samstag geht eine Stuntfrau wirklich K.O., weil sie zu früh in den Schlag ihres ca. 50 Kilo schwereren Kollegen reinrennt. Aber das Publikum bekommt das gar nicht groß mit. Die Laien überstehen dank guter Betreuung das Wochenende ohne Verletzungen, obwohl sie noch mehr Fehler machen.


Am Ende bekommt jeder eine Urkunde, ein (auf Wunsch alkoholfreies) Bier und später einen Kurzfilm, den sie am Sonntagnachmittag selbst gedreht haben. Und natürlich einen Muskelkater, blaue Flecken und einen Haufen toller Erinnerungen, die ihnen niemand nehmen kann.



Selbst ich, der ja nichts anderes getan hat, als die schönste Perspektive zu suchen, um die Action einzufangen, bin immer noch beeindruckt. Ach ja, und nach ein paar Insiderstorys noch ein Stück weiter desillussioniert, was das deutsche Fernsehen betrifft. Nicht, dass ich viel erwartet hätte, was den Realitätsgehalt von Reality-Shows betrifft, aber das ist schon ein starkes Stück: Stuntleute sieht der durchschnittliche Zuschauer öfter, als er denkt. Wenn nämlich die angeblich echten Fälle von "Mieten, Kaufen, Wohnen" zu langweilig sind, springt dann mal eine Stuntfrau ein, die in einem "Wutanfall" den Makler in die Badewanne schubsen darf. Hoffentlich hat sie dem vorher beigebracht, wie man richtig fällt.